Märchen: Spiegel unserer Gesellschaft

In dieser Rubrik sammle ich für Sie verschiedene Aspekte unserer Märchentradition. Schauen Sie gelegentlich mal rein!

Meinen Einstieg in die funkelnde Welt der Märchen übernimmt oft das wunderschöne Märchen, mit dem die Brüder Grimm sämtliche Ausgaben ihrer Kinder- und Hausmärchen abgeschlossen haben: Bei Grimms heißt es »Der goldene Schlüssel« (KHM 200) und endet so: "... und nun müssen wir warten, bis er vollends aufgeschlossen hat, dann werden wir sehen, was darin liegt." Bei mir klingt dieses Märchen aller Märchen so: »Das geheimnisvolle Kästchen«- und es gibt sogar zwei mögliche Enden! Suchen Sie sich das schönere Ende aus! Zunächst aber muß mit einem Vorurteil über die Volkstümlichkeit der Grimmschen Märchen aufgeräumt werden: Wie weit es tatsächlich her ist mit der jahrhundertealten Märchentradition in Deutschland, habe ich im Beitrag "Der Odenwald seit 1648: hier gab es nur Wald..." im Jahrbuch 2023 erläutert.

Und jetzt viel Spaß beim Schmökern - Marieta Hiller

 

Märchen sind die Pioniere der Immigration

Während der 20. Reichelsheimer Märchen - und Sagentage 2015 fand Referentin Prof. Kristin Wardetzky (Berlin) deutliche Worte zur Aktualität von Märchen in der heutigen Zeit. Märchen sind zu allen Zeiten gewandert, die Motive in vielen Ländern der Erde gleichen sich. So kann es geschehen, daß man im Herzen von Afrika ein Märchen hört, dessen Stoff sehr ähnlich auch in Mexiko, Grönland oder Indien erzählt wird.

Es ist wie beim Märchen vom Hasen und dem Igel: immer spricht das Märchen „Ich bin schon längst hier!“ Die Menschen, die auf der Flucht vor Elend und Verfolgung nach Deutschland kommen, haben oft nichts im Gepäck als ihre Hoffnung. Und im Kopf die Märchen. Jeder Mensch kennt Märchen, oder wenigstens eines. Sie sind das innerste Kulturgut aller Erdbewohner, gleich woher sie stammen.

Altes Handwerk im Märchen

Der goldene Boden des Handwerks

Vorzeiten war ein Schneider,der drei Söhne hatte ...
Jeder kennt diese Zeilen: so beginnt das Märchen vom Tischlein-Deck-Dich der Brüder Grimm. Darin geht es um drei Brüder, die jeder ein Handwerk erlernten: ein Schreiner, ein Müller und ein Drechsler wurde aus ihnen. Die Märchen der Brüder Grimm fallen in eine Zeitströmung, in der sich die Weltsicht vom Adel hin zum einfachen Menschen orientierte.

Hic sunt dracones

Hic sunt Dracones: warum Landkarten früher weiße Flecken hatten

Alte Karten sind faszinierend: was entdeckt man nicht alles darauf! Früher richteten die Kupferstecher, die die Vorlage für den Kartendruck herstellten, ihre Platten nach Osten aus: Jerusalem lag am oberen Kartenrand, die Karte war „orientiert“. Der Begriff kommt von Orient = Osten. Später erst drehte der Wind und die Karten wurden nach Norden ausgerichtet, wo der Polarstern steht. Die Kupferstecher hatten ihre ganz besondere Signatur für ihre Platten, verschnörkelte Kartuschen, die zwangsläufig eine Region auf der Landkarte verdeckten.

Der Kobold geistert durch die Sprachecke...

 Ein kluger Mann, den ich an dieser Stelle gelegentlich zu Rate ziehe, ist Heinrich Tischner aus Bensheim. Er unterhält eine sehr aufschlußreiche Seite im WeltWichtelWissen! Seine »Sprachecke« im Darmstädter Echo war stets eine Fundgrube, so auch hier: um Geister und Kobolde geht es dabei, und daß es erstere nicht aber zweitere sehr wohl gibt, das belegt Tischner so nach und nach.

Den ältesten Textbeleg für das Wort "Kobold" datiert er in das Jahr 1135, doch erst 100 Jahre später (ging es dem Beleg da ähnlich unserem Dornröschen, das in 100jährigem Schlaf aufs Wachgeküßtwerden warten mußte?) tauchen Figuren auf, die als Kobold bezeichnet werden: so sei einem jener historischen Quellenschöpfer die Klage über den Adel gestattet, der zu Mißständen schweigt wie die stummen Kobolde, und ein hölzerner Bischof sei ihm lieber als jene sprachlosen Herren (hören wir nicht auch heute ein lautstarkes Schweigen zu den meisten Mißständen?)

Märchen und Eskapismus

In einem fernen Land, vor langer langer Zeit...

Märchen: eine der schönsten Formen von Eskapismus – Flucht in die funkelnde Welt der einfachen Form

In einem Königreich, einer Monarchie, lebten die Brüder Grimm, aber die Monarchie hatte eine Verfassung. Ein König herrschte, wie im Märchen. Klug, weise, besonnen und gerecht. Klugheit, Weisheit und Besonnenheit, diese wichtigen Eigenschaften, die einen Menschen so besonders machen daß er sogar zum König taugt, man wünscht sie so manchem. Gerechtigkeit aber setzt voraus, daß ein Rechtsbewußtsein und ein Rechtssystem besteht. Daß Könige niemals wirklich so waren, das muß den Brüdern Grimm schon bewußt gewesen sein - haben sie sich vielleicht deshalb in die Märchen geflüchtet?

Knusper Knusper Knäuschen ...

... Wer kennt ihn nicht, diesen Spruch einer heimtückischen bösartigen alten Hexe, mitten im finstersten Wald, wo nicht einmal mehr das Sonnenlicht durch die dichten Baumkronen dringt.

Muß diese widerliche Alte denn auch in einem Häuschen von leckerstem Knusper-Lebkuchengebäck wohnen! Was sollten die armen Kinder Hänsel und Gretel da wohl tun, hungrig wie sie waren nach ihrem langen Weg durch den dunklen Wald, weit ab von Weg und Steg, allein und verlassen?

Durch das Zwergentor geht es in die Zauberwelt!

Eingänge in die geheime Welt der Wesen vom Kleinen Volk gibt es viele, doch bei den Menschen sind die meisten in Vergessenheit geraten.

Wer wüßte heute noch, wo der Gläserne Berg zu erklimmen ist, und in welchen Brunnen wollte sich stürzen, der Frau Holle besuchen will? Nur in den Märchen hört man noch von ihnen: Pforten in die Anderswelt, wo Elfen, Feen und Kobolde, aber auch Hexen, Waldschrate und Riesen leben. Für eine kurze Zeit (um genau zu sein von 1999 bis 2020) gab es einen Ort, an dem es Menschen gelingen konnte, in jene geheimnisvolle Welt zu schlüpfen: dieser Ort liegt im Odenwald, genauer im Felsberg. Ganz in der Nähe des Felsenmeeres, wo die Kobolde leben. Finden konnte dieses Zwergentor nur, wer ganz bestimmte Dinge weiß und tut.

Denn es braucht ein Zauberwort, ein ganz spezielles. Und man muß reinen Herzens sein, wenn man durch das Zwergentor hindurchkriecht. Sind es bei den Erwachsenen nette Handreichungen und freundliche Dienste, die seit dem letzten Sonnenaufgang nicht abgeschlagen worden sein dürfen, so sind es bei Kindern die Socken. Socken spielen in der Welt des Kleinen Volkes eine wichtige Rolle: jeder kennt Dobbie, den Hauself von Harry Potter, der frei wurde, weil ihm sein Herr eine Socke geschenkt hat! Und so ist es auch mit dem Zwergentor: wer seit dem letzten Sonnenaufgang auch nur eine Socke unordentlich herumliegen gelassen hat, dem öffnete das Zwergentor nicht den Zugang in die Zauberwelt.

Wohl kann man jederzeit hindurchkriechen, durch das Zwergentor. Denn sichtbar ist es auch für Menschen, die von der Zauberwelt nichts wissen.

Doch wer erst einmal davon erfahren hat, der wollte sie auch zu gerne besuchen können, die Zauberwelt!

  • Hören von den seltsamen Wesen, die dort leben - den Kobolden, Elfen und Waldschraten, und von den beiden Riesen, die überhaupt an der Entstehung des Felsenmeeres schuld sind
  • Sehen, wie die Felsen dabei übereinandergepurzelt sind und einen der beiden Riesen, Felshocker, unter sich begraben haben
  • Riechen, wie geheimnisvolle Ingredienzien zu einem Märchenwunderzaubertrank werden. Probieren, wie echte Dracheneier schmecken
  • Fühlen, wie ein Stein atmet, unter seinem dichten Kleid aus Moos

All diese Dinge konnte man gemeinsam mit Kobold Kieselbart, dem Menschenbeauftragten der Kobolde im Felsenmeer und dem einzigen Kobold der überhaupt mit Menschen spricht, entdecken. Man mußte ihm nur das Zauberwort ganz richtig nennen können! Vorausgesetzt alle Socken wurden vorher ordentlich aufgeräumt, Mutti hat für Papi die Zeitung geholt und Papi wiederum für Mutti den Müll runtergebracht - sonst werdet ihr die Zauberwelt wohl nie erblicken...

... und das werdet ihr auch nicht mehr! Denn im Herbst 2020 beschlossen Kieselbart und das ganze Kleine Volk, sich den Menschen nicht mehr zu zeigen. Hier könnt ihr lesen warum: Felsenmeer: Naturschutz oder Müllkippe?

Aber ich habe die persönliche Genehmigung von Kobold Kieselbart als oberstem Kobold des Kleinen Volkes im Zauberwald, euch weiterhin Geschichten zu erzählen! Mit mir - und mit etwas Phantasie - könnt ihr durch das Zwergentor in die Zauberwelt gelangen!

Marieta Hiller, im Jahr 2021 - in diesem Coronajahr fand meine allerletzte Felsenmeerführung statt...

 

Die wilden Weibchen

Wie gar oft müssen wir in Märchenbüchern lesen oder in alten Erzählungen hören, daß es einst wilde Weibchen gab.

An zahlreichen Orten im Odenwald gibt es Wildleutheusel, Wildweibchensteine oder ein Wildfrauhaus - meist rauhe Felsformationen mitten in der Waldwildnis. Schwer ist es uns heute vorstellbar, daß hier einst Menschen gehaust haben sollen. Und doch: auch die Räuber lebten ja in solchen Unterschlupfen, in Höhlen oder unter großen Steinen, die mit Ästen und Zweigen ausgebaut waren. Wer aber waren die wilden Weibchen?

Nun muß man wissen, daß es sich in früheren Zeiten nicht schickte, als Frau alleinstehend zu bleiben. Nur als Gattin ihres Mannes galt sie etwas. Starb einer Frau der Mann, so mußte sie übers Jahr wieder heiraten. Sonst war sie nicht mehr gern gesehen in ihrer Dorfgemeinschaft. Schnell wurde sie der Zauberei beschuldigt - und war es nur, daß einer Anderen Mann ihr einen Blick hinterhergeworfen hatte! Sie mußte weg. Hinaus aus dem Dorf. Aber zu jenen Zeiten - lang vergangenen Zeiten, möchte man gerne sagen, doch nicht überall auf der Welt gehören sie heute ins Reich der Märchen... - konnte sie nicht einfach ins nächste Dorf und sich dort ein neues Leben suchen. Dazu brauchte man einen Passepartout, ein Erlaubnisschreiben aus dem Heimatdorf. Nur mit einem Passepartout durfte man sein Dorf nämlich verlassen - es sei denn, man war eine Unwillkommene. Diesen armen Frauen aber stellte kein Dorfschultheiß einen Passepartout aus. Denn damit würde die Zugehörigkeit der Frau zu seinem Dorf bestätigt, und man wollte sie ja gerade loswerden!

Wie es Kindern im Märchen ergehen kann...

 Wird in einem Märchen ein Kind geboren, dann ist es grad wie im richtigen Leben: die Eltern freuen sich - „es ward ihnen ein Kindlein geboren, und sie hüteten es wie ihren Augapfel...“oder aber die arme alleinstehende junge Mutter weiß nicht, wie sie ihr Kind ernähren soll - „und sie weinte bitterlich und flehte die guten Geister um Hilfe an...“.

Ganz schlimm wird es aber, wenn eine mißgünstige böse Fee über das Neugeborene einen üblen Fluch ausspricht: „es soll aber kein Tod sein, sondern ein hundertjähriger tiefer Schlaf...“ Manchen Märcheneltern wird aber auch gar kein Kind geboren, und sie sind traurig - „ach, wenn wir doch ein Kindlein hätten...“, bis ihnen ein Frosch, ein Storch, eine gute Fee die frohe Botschaft bringt, daß sie übers Jahr eine Tochter zur Welt bringen werden.

Die Geschichte von der goldenen Harfe und den Leprechauns

Einst kamen sie übers Meer nach Irland: die Zwerge vom Kleinen Volk, gemeinsam mit den Menschen der Bronzezeit.

Flugs machten sie sich ans Werk und verwandelten die waldig-geheimnisvolle Insel in ein grünes Grasland. Hell klangen die Äxte, krachend stürzten die uralten Baumriesen zu Boden und wurden zu ganz gewöhnlichem Brennholz für die Rennöfen, mit denen die Zwerge aus Erz ihr heißbegehrtes Metall gewannen. Niemand störte sich daran, daß in den tiefen Wäldern schon jemand gewohnt hatte. Elfen nämlich, durchscheinend helle Flatterwesen, die in der Hauptsache aus Lachen bestehen und die Musik ihrer goldenen Harfen liebten. Die She und Shi, denn so heißen sie in der Sprache der Insel, hießen auch das Stille Volk, denn sie lebten friedlich.

Warum es Monster und böse Wölfe geben muß

Die böse Hexe, der heimtückische Waldschrat, häßliche Orks, der wilde Wolf, garstige Trolle, die lieblose Stiefmutter, unheimliche Dementoren, Wildruden die nach Blut schreien, feuerspeiende Drachen, gewissenlose Waldelfen, der zornsprühende Zauberer - sie alle bedrohen uns im Märchen.

Sie bedrohen uns so, daß wir uns stets mit ängstlichem Blick über die Buchseiten umschauen und vergewissern, daß alle finsteren Ecken monsterfrei sind. Sie lehren uns das Fürchten, sie versetzen uns in schieres Entsetzen, sie stellen uns vor unlösbare Schwierigkeiten. Ganz gleich, ob es die netten Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm, die meist so traurigen Kunstmärchen von Hans Christian Andersen oder anderen Dichtern der Romantik sind, ob es moderne Märchen wie Startrek, Harry Potter, Herr der Ringe oder Eragon sind  - sie alle stellen uns buchstäblich vor den Berg aus Glas, den wir erklimmen müssen und doch nicht können.

Drei Haselnüsse - Wunder des Lebens

Aschenbrödel bei Božena Nemcová, der um 1820 als Kind einfacher Leute in Wien geborenenen tschechischen Schriftstellerin, Aschenputtel in den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm, Cinderella bei Walt Disney - sie alle haben viel mit der Hasel zu tun.

Und so heißt einer der wohl schönsten Filme aller Zeiten „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“. Dieser Film aus den 70er Jahren erweckte eine eigene Fanpage zum Leben: www.dreihaselnuessefueraschenbroedel.de. Der tschechisch-ostdeutsche Märchenfilm, im Original „Tři oříšky pro Popelku“ orientiert sich am Märchen von Božena Nemcová, die das Grimmsche Motiv Aschenputtel aufgriff, in dem sie den sie drei Haselnüssen eine wichtige Aufgabe gibt: sie bergen eine jede ein Geheimnis, das dem Aschenbrödel - schönes Stiefkind, von seiner Stiefmutter und deren richtiger Tochter erniedrigt und schikaniert - zu einem besseren Leben verhelfen kann.